Autismus, Burn-out und die Reise zu uns.

Der große Knall - das Ende der Schulzeit

Was nach dem "Sturm in Kalifornien" im Jahr 2023 geschah!

Ich habe eben den Beitrag "Sturm in Kalifornien" gelesen und mich noch einmal in die Situation von vor 1,5 Jahren versetzt. Es ist mega spannend, da ich damals keine Ahnung hatte was alles kommen würde. Wenn ich jetzt zurückblicke ist es einfach nur WOW. 

 

Wer den Beitrag nicht kennt, sollte diesen vielleicht zunächst lesen, um einen tieferen, weiter zurückreichenden Einblick in unsere Situation zu bekommen. Damals waren wir, zumindest der Papa, noch meilenweit davon entfernt in die Welt hinauszuziehen und das deutsche Schulsystem zu verlassen. Doch innerhalb weniger Wochen änderte sich so viel...


Die ersten Wochen nach den Weihnachtsferien:

Wie so oft nach den Schulferien war es erst einmal wieder ein ziemlich Umgewöhnung für den kleinen Mann in die Schule zu gehen. Doch gestärkt doch die Auszeit, lief es ebenfalls wie immer, zunächst einmal nicht schlecht. Tendenziell wurde es jedoch immer schwieriger und bereits nach wenigen Tagen sehnten wir alle schon die nächsten Ferien herbei.

 

Mittlerweile war es so, dass sich der kleine Mann - kaum holte ich ihn von der Schule ab - in extremen Equalizing Verhalten übte. Da Vormittags unendlich viele Anforderungen auf ihn einprasselten, er über Stunden die laute Geräuschkulisse der Schule und die vielen Kinder um sich herum aushalten musste, brach er direkt bei Abholung regelrecht zusammen. Was damit anfing, dass er anfangs lediglich überhaupt nicht mehr zuhörte und jegliche weitere Anforderungen den Tag über missachtete, entwickelte sich dazu, dass er zu Hause regelrecht explodierte. Er schlug wild um sich, biss, trat, schrie und war nicht mehr wiederzuerkennen. Phasenweise legte er sich auch nur hin. 

 

Die Nachmittage wurden zur Qual für uns alle. Wir konnten weder etwas unternehmen, noch war es gefühlt überhaupt ein Leben. Ich war nur mit der Regulation für meinen Sohn beschäftigt. Um 20 Uhr waren wir generell alle so kaputt und platt, dass wir nur noch ins Bett wollten. 

Damals wurde mir bereits klar, dass ich das nicht mehr lange machen konnte. Ich war nervlich und körperlich total am Ende und schleppte mich irgendwie von Tag zu Tag. 

 

Dann kam die Zusage für einen Housesit (auf den ich mich in Kalifornien beworben hatte). Der Sit: vier Wochen auf einem einsamen Bauernhof in den USA. Ja, es war außerhalb der Ferienzeit, aber es war mir egal. Ich wusste ich muss nun nach mir schauen, denn sonst würde ich kaputtgehen. Ich sagte zu ohne eine Ahnung zu haben, wie es funktionieren sollte.

 

Die Schule wurde unterdessen immer herausfordernder für uns alle. Ich konnte nicht mehr und weigerte mich unseren Sohn von der Schule abzuholen, weil es so wahnsinnig viel Kraft kostete all die Emotionen auf dem Heimweg auszuhalten.


Der Papa, der das bisher als "alles nicht so wild" abtat, sprang daraufhin ein. Was soll ich sagen: es dauerte keine zwei Wochen, da machte auch er schlapp und erkannte, dass dies kein Dauerzustand sein konnte.


Schulverweigerung und Burn-Out:

Um es abzukürzen. Die Situation schaukelte sich zunehmend hoch. Anfangs kränkelte der Zwerg ständig, dann ging er zunehmend in die Verweigerung. Tagtäglich kostete es mehr psychische und physische Kraft den kleinen Mann irgendwie in die Schule zu bringen. Was anfangs noch irgendwie verhandelt werden konnte, wurde irgendwann sehr extrem. Er verweigerte nicht nur das Anziehen, sondern er schmiss sich panisch schreien auf den Boden, wenn wir zur Schule los mussten.

 

Ich war mittlerweile nicht nur psychisch am Ende, auch körperlich fing ich mir in den Osterferien eine schmerzhafte Rippfellentzündung ein und mein Asthma machte mir mehr als zu schaffen. Meine Hülle war noch da, mehr aber auch nicht. Ich war im Burn-Out. Ich würde sogar sagen auch das Kind war oder steuerte geradewegs in ein autistischen Burn-Out hinein.

Und die Schule? Ach, halb so wild?! Sie nahmen ein Kind wahr, das gerne zur Schule ging und sich bestens einfügte. Wir Eltern seien wohl das Problem, denn schließlich haben ja wir die Probleme und nicht die Schule. Damals waren wir einfach hilflos und zu unwissend. Heute muss ich sagen, dass wir völlig falsch gehandelt haben. Wir hätten noch bestimmter und selbstbewusster auftreten müssen.

 

Es zeigt, wie es so häufig leider der Fall, dass wenig Ahnung im Bereich Autismus-Spektrum vorhanden ist. Denn das Verhalten, das unser Sohn zeigte ist mehr als typisch für High-Masking. Die hohe, andauernde Maskierfähigkeit ist natürlich extrem anstrengend für die Kinder. Komplette Zusammenbrüche zu Hause, im so genannten Safe-Space wo die Kinder so sein können wie sie sind, sind normal. Die Schule und auch andere beratende (angebliche) Fachkräfte, waren jedoch der Annahme die Schule sei nicht das Problem. Von unserer Integrationskraft musste ich mich sogar anhören, ICH sei das Problem.


Auszeit gefordert:

Mittlerweile hatten wir, um wieder etwas Ruhe in die Situation zu bringen und Lösungen zu finden, bei der Schulrektorin eine Auszeit für die "Bauernhof-Zeit" in den USA beantragt. Mündlich wurde die Auszeit zugesagt, wenn bestimmt Unterlagen geliefert werden können und das Jugendamt zustimmt. Alles geschah, das Jugendamt stimmte zu, doch plötzlich wollte man davon nichts mehr wissen. Details lasse ich nun aus. Kurzum: unserer "Erholung" könne man nicht zusagen. Sogar ein Schreiben von meinem Arzt, dass dringend zur Rehabilitation oder Kur geraten wird legte ich vor. Doch: die Schulpflicht sei einzuhalten.

Ich, wir alle, waren mittlerweile am Ende. Der kleine Mann verweigerte sich komplett und ich sah es nicht mehr ein ihn gegen seinen Willen anzuziehen und zu zwingen in die Schule zu gehen. 

 

Zahlreiche Versuche mit Rektorin und Schulamt ins Gespräch zu kommen, um eine Lösung für alle zu finden, schlugen fehl. Selbst das Jugendamt bat um ein Gespräch: Fehlanzeige. Man wollte sich nicht mit uns unterhalten: wir sollten die Schulpflicht einhalten. Unser Kind sei fähig und gewillt eine Schule zu besuchen. 

 

Dem konnten wir so nicht mehr nachkommen. Letztendlich liesen wir unseren Sohn krankschreiben. Der einzige Rat des Arztes dazu: reden sie mit der Schule. Als ob wir das nicht seit Monaten versuchten...


Seit den Weihnachtsferien, dem Aufenthalt in Kalifornien, waren gerade einmal vier Monate vergangen! Vier Monate, die in unserem Leben ein totales Chaos verursachten und wir nur eine gute Lösung für alle finden wollten. 


Schluss mit Schule!

Anfang Mai waren wir also an einem Punkt an dem nichts mehr ging. Weder bei uns noch bei unserem Kind. Natürlich hatten wir schon mehrfach darüber nachgedacht Deutschland den Rücken zu kehren, doch ganz ehrlich: so einfach macht man das nicht, auch wenn man gefrustet ist. Jedenfalls wir nicht. Wir suchten tagtäglich nach etlichen Lösungen. Wir telefonierten und schrieben und versuchten eine sinnvolle und legale Möglichkeit zu finden. Doch jeder der einmal an diesem Punkt kommt, wird bald merken: so einfach ist das nicht. Einfach der Heimat den Rücken kehren geht natürlich, doch dann ist letzten Endes bald alles weg.

 

Versicherungen, Konten, Wohnsitzlosigkeit und und und...all das will geklärt sein. Ich werde in einem extra Beitrag deshalb auf diese Punkte eingehen. Für uns gab es letztendlich, nach Drohungen der Rektorin, keine andere Option als Deutschland erst einmal den Rücken zu kehren. Wir wollten und mussten weg. Ich nutzte meine Möglichkeit als freie Journalistin und begab mich auf Recherche-Reise. 

 

In ersten Linie wurde es eine Reise zu uns selbst. Eine Reise, die uns aufzeigte (und es noch immer tut) wie wir uns als Familie finden. Wir mussten lernen unseren Sohn zu lesen, ihn und seine Bedürfnisse zu erkennen und ein Leben finden welches uns alle guttut.


Rein ins Abenteuer!

Seit 12 Monaten sind wir nun, als eine Mischung aus Home- und Freeschooler, unterwegs. Doch wir alle haben weit mehr gelernt als Deutsche Grammatik, Musikinstrumente oder mathematische Formeln. Wir haben etwas ganz Entscheidendes kennen gelernt: wir haben uns richtig gut kennen gelernt. Und wir lernen immer weiter. So langsam sind wir wieder von dem Stress geheilt, aber nur langsam. So etwas dauert. Doch mit jedem Abschied von zu Hause und mit jeder Rückkehr spüre ich, wie ich heile.

 

Wir merken wie viel unser Sohn nebenher aufsaugt. Wie unser Sohn innerhalb kürzester Zeit perfektes Englisch gelernt hat, an welch Kleinigkeiten und Details er sich oftmals erinnert. Wie sehr es ihn freut Neues kennen zu lernen und in der Natur unterwegs zu sein. Wir gerne er die Welt, unseren Lebensraum und alles erkundet, statt nur davon zu hören. 


Und wie geht´s weiter?

Seine Form des Autismus, die Neurodiversität ist deshalb nicht weg. Nein, keineswegs. Noch immer haben wir tagtäglich mit vielen Problemen und dem Alltag zu kämpfen. Und das wird auch immer in irgendeiner Weise so bleiben. Doch es ist ein ganz anderer Kampf. Es ist kein "sich in etwas reinpressen" und "müssen" mehr. Es ist nicht mehr erzwungen. Es ist ein "Ausprobieren", ein "Lösungen finden". 

 

Wir haben in den vergangenen 12 Monaten festgestellt, dass Deutschland wohl nicht für die Zukunft von uns bzw. unserem Sohn bestimmt ist. Anderssein ist hier mit großen Hürden und täglichem extra Kampf verbunden. Doch es gibt Länder und Orte da darf und will man frei leben. Da darf man sein wie man will. Da wird man in kein System gepresst. 

 

Ob wir uns gefunden haben? Nein, noch nicht. Doch wir haben bereits sehr viel gelernt und freuen uns noch weiter zu lernen und diese Reise vor uns zu haben. Wir sind gespannt wie es in etwa in einem weiteren Jahr dann aussieht. Wir haben wirklich kaum eine Ahnung. Aber wir freuen uns, wenn Ihr dabei bleibt und unseren Weg zu uns, dem Autismus und allem was dazugehört mit uns geht.

Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    Evi (Mittwoch, 24 Juli 2024 02:19)

    Oh Melli, ich bekomme Gänsehaut, wenn ich das lese. Ich bewundere euch so sehr für eure „Reise“, die viel Mut kostet. Und es freut mich, dass ihr diesen Weg gefunden habt. Ich bleibe an eurer Seite ♥️

  • #2

    Kind im Gepäck (Mittwoch, 24 Juli 2024 22:24)

    Wie lieb von Dir :-D Und wie schön, dass Du das hier liest...
    Ich vergesse immer, wer das alles lesen kann.

Unsere Blogartikel erscheinen bei:

TopBlogs.de das Original - Blogverzeichnis | Blog Top Liste

 

Wir sind offizieller Outdoorblogger.
Top 10 Outdoorblog bei Familien.